11.03.2024 Ausgabe: 1&2/24

Wirklich krank?

Zur Erschütterung des Beweiswertes fragwürdiger Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen

Nicht selten kommt es in der betrieblichen Praxis vor, dass sich Mitarbeiter unter Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AUB) krankmelden, dabei aus Arbeitgebersicht aber erhebliche Zweifel an deren Richtigkeit bestehen – insbesondere bei plötzlich auftretenden Erkrankungen infolge nachteiliger Maßnahmen gegenüber Mitarbeitern, etwa wenn Urlaub nicht gewährt wird, bei Versetzung, Abmahnung oder dem Ausspruch einer Kündigung. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in jüngster Vergangen­heit mehrere Entscheidungen zu der Frage getroffen, welcher Beweiswert einer AUB beizumessen ist und wie dieser erschüttert werden kann. Diese Entwicklungen der Rechtsprechung sollen hier dargestellt und aufgezeigt werden, welche Handlungsoptionen Arbeitgeber in solchen Fällen haben.

Grundsätzlich hoher Beweiswert

Die Vorlage einer AUB ermöglicht es erkrankten Arbeit­nehmern, ihren Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall gegenüber ihrem Arbeitgeber durchzu­setzen. Sie haben mit der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit und indem sie diese Information dem Arbeitgeber zur Verfügung stellen zunächst alles getan, um ihre Forderung nach Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zu begründen. Arbeitnehmer erbringen damit einen von den Arbeitsgerichten als substantiiert anerkannten Nachweis ihrer Arbeitsunfähigkeit, den Arbeitgeber nicht durch bloßes Bestreiten mit Nichtwissen erschüttern können. Eine ordnungsgemäß ausgestellte AUB gilt mithin als das gesetzlich vorgesehene und bedeutendste Beweismittel für das Bestehen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit.

Zweifelhaft ist, ob dies in dieser Absolutheit auch nach Einführung der für gesetzlich versicherte Arbeitnehmer seit 1. Januar 2023 obligatorischen elektronischen AUB (eAUB) gilt. Bei der eAUB werden Arbeitsunfähigkeitsdaten vom behandelnden Arzt erfasst und an die Krankenkasse über­mittelt, die diese dann aufbereitet und dem Arbeitgeber zum Abruf bereitgestellt. Problematisch ist dabei allerdings, dass die eAUB keine Angaben mehr zum ausstellenden Arzt (Stichwort „Ärztehopping“), zu dessen Fachrichtung sowie zum Ort der Ausstellung enthält und ihr Infor­mationsgehalt damit im Vergleich zur schriftlichen AUB erheblich begrenzt ist. Insofern geht auch der Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesbegründung davon aus, dass die eAUB im Vergleich zur schriftlichen AUB kein „geeignetes elektronisches Äquivalent” mit gleich hohem Beweiswert ist. Da Arbeitnehmer die volle Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit tragen, müssen sie – um einen Gleichlauf zur schriftlichen AUB herzustellen – bei einem Bestreiten des Arbeitgebers zumindest zu den Umständen der Arbeitsunfähigkeit näher vortragen, insbesondere den behandelnden Arzt sowie Zeitpunkt und Ort der Feststellung nennen oder aber den Ausdruck der eAUB und eine ihnen ausgestellte ärztliche Bescheinigung vorlegen.

Die gesetzliche Vermutung einer tatsächlich bestehenden Arbeitsunfähigkeit begründet die AUB (auch in Schrift­form) allerdings nicht. Es ist Arbeitgebern stets möglich, tatsächliche Umstände, die an der Erkrankung eines Arbeitnehmers zweifeln lassen, vorzutragen und ggf. zu beweisen, um so den Beweiswert einer AUB zu erschüttern. Gelingt Arbeitgebern dies, liegt die volle Darlegungs-und Beweislast für das Bestehen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit beim Arbeitnehmer, der er insbesondere durch die Entbindung der behandelnden Ärzte von ihrer Schweigepflicht nachkommen kann.

Gesetzliche Regelbeispiele für Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit

Das Gesetz selbst benennt nur wenige Regelbeispiele, bei denen Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit angebracht sind. Nach § 275 Abs. 1a S. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) V bestehen solche insbesondere dann, wenn Mitarbeiter auffällig oft oder nur für kurze Dauer krank sind oder regelmäßig zu Beginn oder zum Ende einer Woche; des Weiteren, wenn die Arbeitsunfähigkeit von einem Arzt festgestellt worden ist, der durch die Anzahl der von ihm ausgestellten Atteste bereits auffällig geworden ist.

Bisherige Rechtsprechung zur Erschütterung des Beweiswertes der AUB

Die Rechtsprechung hat bereits zahlreiche weitere Fall­gruppen erarbeitet, bei deren Vorliegen die Richtigkeit der AUB zu bezweifeln und ihr Beweiswert als erschüttert anzusehen ist. Grundsätzlich kann sich die Erschütterung des Beweiswertes dabei aus der Bescheinigung selbst, aus den tatsächlichen Umständen ihres Zustandekommens oder aus dem eigenen Sachvortrag des Arbeitnehmers ergeben, wobei es jedoch auf die Umstände des jeweiligen Einzelfalls ankommt.

So etwa, wenn feststeht, dass der Arbeitnehmer den Arzt durch Simulation getäuscht bzw. überhaupt keine Untersuchung stattgefunden hat, der Arzt den Beginn der Arbeitsunfähigkeit um mehr als zwei Tage rückwirkend fest­stellt hat, wenn diese für mehr als zwei Wochen im Voraus bescheinigt wurde, der Arbeitnehmer die Krankheit infolge der Ablehnung eines Urlaubsantrags bereits angekündigt hat oder Krankgeschriebene bei anstrengenden körperlichen Aktivitäten im privaten Umfeld beobachtet wurden.

Krankmeldung nach Kündigung

Mit Urteil vom 8. September 2021 (Az. 5 AZR 149/21) hat das BAG entschieden, dass sich ernsthafte Zweifel am Vorliegen einer Erkrankung auch daraus ergeben können, dass eine am Tag der Eigenkündigung eines Arbeitnehmers ausgestellte AUB passgenau die nach der Kündigung noch verbleibende Dauer des Arbeitsverhältnisses abdeckt, also die AUB auf den Tag des Ablaufs der Kündigungsfrist datiert (sog. „zeitliche Koinzidenz“). 

Gleiches gilt, wenn Arbeitnehmer nicht selbst kündigen, sondern entlassen werden und nach Erhalt der Kün­digung mehrere Atteste vorlegen, die exakt die Dauer der Kündigungsfrist umfassen, und direkt nach deren Ablauf – plötzlich genesen – eine neue Stelle angetreten wird (BAG, Urteil vom 13.12.2023, Az. 5 AZR 137/23).

Klarstellend hat das BAG in diesen Entscheidungen aus­geführt, dass bei der Bestimmung der Anforderungen an die wechselseitige Darlegungslast zu berücksichtigen ist, dass Arbeitgeber regelmäßig keine Kenntnis von den Krankheitsursachen haben und nur in eingeschränktem Maß in der Lage sind, Tatsachen zur Erschütterung des Beweiswertes der AUB vorzutragen. An den Vortrag eines Arbeitgebers dürfen deshalb keine überhöhten Anforderungen gestellt werden.

Nichtbeachtung der Richtlinien zur Arbeitsunfähigkeit

Vielfach unbekannt ist die Existenz der „Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Beurtei­lung der Arbeitsunfähigkeit und die Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung“ (AU-RL). Sie bindet zwar unmittelbar nur die Träger des Gemeinsamen Bundesausschusses, nicht dagegen Arbeitgeber und Arbeitnehmer als Parteien des Arbeitsverhältnisses. Gleichwohl sind dort Regelungen enthalten, die sich auf medizinische Erkenntnisse zur sicheren Feststellbarkeit der Arbeitsunfähigkeit beziehen. So darf die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit nur aufgrund einer ärztlichen Untersuchung erfolgen, die unmittelbar persönlich oder mittelbar persönlich im Rahmen einer Videosprechstunde durchgeführt werden muss. Weiter wird festgelegt, dass eine Rückdatierung der Arbeitsunfähigkeit für eine vor der ärztlichen Inanspruchnahme liegende Zeit lediglich ausnahmsweise nach gewissenhafter Prüfung und in der Regel nur um bis zu drei Tagen zulässig ist. Schließlich soll die voraussichtliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit vom behandelnden Arzt nicht für einen Zeitraum von mehr als zwei Wochen im Voraus bescheinigt werden; die absolute Obergrenze liegt bei einem Monat.

Wie Arbeitgeber ermitteln können

Bestehen Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit eines (gesetzlich versicherten) Arbeitnehmers, können Arbeitgeber nach § 275 Abs. 1a S. 3 SGB V bei der Krankenkasse die Einholung eines Gutachtens des Medizinischen Dienstes verlangen. Stimmt das Gutachten mit der Bescheinigung des die AUB aus­stellenden Arztes nicht überein, wird der Arbeitgeber hierüber informiert. 

Weiter kann auch der die AUB ausstellende Arzt zur Stellungnahme aufgefordert werden, ob die Vorgaben der AU-RL – u. a. muss der Arzt den Patienten konkret zu seiner Tätigkeit und den damit verbundenen Anforderungen befragen und das Ergebnis bei seiner Beurteilung bezüg­lich des Grundes und der Dauer der Arbeitsunfähigkeit berücksichtigen – eingehalten wurden.

Ggf. bietet es sich an, bei schon bestehenden Verdachts­momenten die Social-Media-Aktivitäten betreffender Mitarbeiter im Auge zu behalten. Zwar besteht die Gefahr, dass daraus gezogene Erkenntnisse aufgrund datenschutz-rechtlicher Bedenken einem Beweisverwertungsverbot unterliegen. Gleichwohl sind sie in krassen Fällen dazu geeignet, einen Rechtsstreit in eine für den Arbeitgeber günstige Richtung zu lenken. Meldet sich ein Mitarbeiter krank, nimmt in dieser Zeit aber an einer „Wild Night Ibiza Party“ teil und stellt Fotos davon in seinen WhatsApp-Status ein, ist von einer vorgetäuschten Arbeitsunfähigkeit aus­zugehen, eine außerordentliche Kündigung gerechtfertigt und selbstredend auch keine Entgeltfortzahlung zu leisten (Arbeitsgericht Siegburg, Urteil vom 16.12.2022, Az. 5 Ca 1200/22). In einem anderen Fall (Arbeitsgericht Düssel­dorf, Urteil vom 28.8.2011, Az. 7 Ca 2591/11) postete eine angeblich erkrankte Auszubildende auf Facebook: „Ab zum Arzt und dann Kofferpacken“ sowie in den Tagen darauf mehrere Urlaubsfotos – der Rechtsstreit endete im Vergleichswege gegen Zahlung von 150 Euro und der Ausstellung eines guten Zeugnisses.

Wenig zielführend dürfte dagegen ein Krankenkontroll-besuch durch den Arbeitgeber (oder eine von ihm beauf­tragte Person) sein. Arbeitnehmer sind weder verpflichtet, ihnen die Tür zu öffnen, noch sich überhaupt zu Hause aufzuhalten. Darüber hinaus haben die daraus gewonnenen Erkenntnisse in der Regel nur sehr geringen Beweiswert. Ggf. bietet es sich im Einzelfall unter Beachtung der daten-schutzrechtlichen Vorschriften an, einen Privatdetektiv zu beauftragen.

Schließlich kommt bei schwerwiegenden Verdachts­momenten auch eine Befragung von Arbeitnehmern hin­sichtlich Diagnose, krankheitsbedingter Einschränkungen und Therapie in Betracht. Arbeitnehmer sind zwar nicht zur Auskunft verpflichtet, allerdings ist es legitim, einen gewissen Druck auf Betreffende aufzubauen und die Aufforderung zur Auskunftserteilung mit der Androhung einer Begutachtung durch den Medizinischen Dienst oder der Zurückbehaltung der Entgeltfortzahlung zu verbinden.

Arbeitsrechtliche Maßnahmen

Ist erwiesen, dass keine Arbeitsunfähigkeit vorliegt, oder gibt es dafür zumindest handfeste Anhaltspunkte, steht es Arbeitgebern zunächst frei, das Arbeitsverhältnis (außerordentlich) zu kündigen oder eine Abmahnung auszusprechen. In der Praxis hat sich – sofern das Arbeits­verhältnis nicht gekündigt werden soll bzw. bis zum Ende der Kündigungsfrist – das Einbehalten der Entgeltfort-zahlung als oft wirksames Mittel gegen das „Krankfeiern“ erwiesen, wobei Arbeitnehmern vorab Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden sollte.

Im Entgeltfortzahlungsprozess wird es dann darauf ankommen, ob der Beweiswert der AUB vom Arbeits­gericht tatsächlich als erschüttert angesehen wird und – falls ja – der Arbeitnehmer anderweitig den Nachweis erbringen kann, dass tatsächlich eine Er­krankung vorgelegen hat.

Fazit

Sehr zu begrüßen ist, dass das BAG in seiner jüngsten Rechtsprechung zur Erschütterung des Beweiswertes Stellung genommen und damit etwas Transparenz in einem vormals mit vielen Unsicherheiten behafteten Themenkomplex geschaffen hat. Die Anforderungen an den Vortrag des Arbeitgebers zur Erschütterung des Beweiswerts der AUB wurden etwas herabgesetzt bzw. konkretisiert, was aber nicht zur Folge hat, dass nun jedwede AUB angezweifelt werden sollte – ein gesundes Grundvertrauen in die eigene Belegschaft sollte stets vorhanden sein. Allerdings bestehen arbeitgeberseitig einige Möglichkeiten, etwaige Unstimmigkeiten der AUB zu ermitteln bzw. bereits bestehende Zweifel zu erhärten und damit eine Verweigerung der Entgeltfortzahlung sowie weitere Maßnahmen zu rechtfertigen.

 

Matthias Wißmach, Tobias Schwartz,

TOBIAS SCHWARTZ
Fachanwalt für Arbeitsrecht sowie für Handels- und Gesellschaftsrecht, Geschäftsführer der LKC Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, München-Bogenhausen

MATTHIAS WIßMACH
Rechtsanwalt in derselben Kanzlei www.lkc-recht.de