11.03.2024 Ausgabe: 1&2/24

WEG-Recht: Faktisches Sondernutzungsrecht durch Beschlussfassung nach §§ 20, 21 WEG

(LG München I, Beschluss vom 4.7.2023 – Az. 1 S 5214/23 WEG)

Das Thema 

Noch vor Inkrafttreten des Wohnungseigentumsmoder-nisierungsgesetzes (WEMoG) zum 1. Dezember 2020 hatte sich die Praxis an der durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofes (BGH) mit Urteil vom 13. Januar 2017, Az. V ZR 96/16, gefestigten Rechtsprechung zu orientieren, dass ein Beschluss über bauliche Veränderungen, der zu einem faktischen Sondernutzungsrecht führen würde, nicht wirksam beschlossen werden kann. Das Landgericht (LG) München I hatte zu entscheiden, ob diese Rechtsprechung auf das nach Inkrafttreten des WEMoG nunmehr geltende Recht übertragbar ist.

Der Fall

Die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer (GdWE) fasste auf der Eigentümerversammlung vom 15. September 2022 den Beschluss unter TOP 2, dass den Eigentümern der Wohnungen mit den Nummern 4, 7, 8 und 9 geneh­migt wird, im Gebäude einen Plattformlift als Innenaufzug einbauen zu lassen. Der Innenaufzug soll auch nur von den Eigentümern dieser Wohnungen benutzt werden dürfen.

Die Kläger begehren, den genehmigenden Beschluss unter TOP 2 der Eigentümerversammlung vom 15. September 2022 für ungültig erklären zu lassen. Sie wenden sich mit der Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts, mit dem ihre Klage abgelehnt worden war. Die Berufung der Kläger hat keine Aussicht auf Erfolg.

Vor Inkrafttreten der Reform des Wohnungseigentumsrechts am 1. Dezember 2020 konnten Sondernutzungsrechte nur durch Vereinbarung und zusätzliche Eintragung in die Wohnungs- und Teileigentumsgrundbücher, nicht hingegen durch Beschluss wirksam begründet werden. Nur so konnte eine Bindungswirkung gegenüber Sondernachfolgern ge­schaffen werden. Nach alter Rechtslage war demnach ein Beschluss über die Begründung eines Sondernutzungsrechts schon mangels Beschlusskompetenz nichtig. Dies hat – zur Vermeidung einer Umgehung – auch für die Begründung eines faktischen Sondernutzungsrechts gegolten.

Auf das seit 1. Dezember 2020 nunmehr geltende Recht kann Vorstehendes nicht übertragen werden. Denn das Gesetz selbst sieht nunmehr das Entstehen faktischer Sondernutzungsrechte durch Beschluss vor: Die durch die §§ 20, 21 Wohnungseigentumsgesetz (WEG) vorgesehene Beschlusskompetenz ermöglicht ein faktisches Sondernutzungsrecht unter den dort genannten – austarierten – Rahmenbedingungen. Ent­sprechend der Begründung setzt der Gesetzesentwurf den Vorschlag der Bund-Länder-Arbeitsgruppe um, die festgestellten Defizite im Bereich der Beschlussfassung über bauliche Maßnahmen auszugleichen. Ein im Übrigen den Vorschriften über die baulichen Veränderungen ent­sprechender und damit rechtmäßiger Beschluss soll nicht mehr daran scheitern, dass die bauliche Veränderung ein „faktisches“ Sondernutzungsrecht zugunsten einzelner Wohnungseigentümer schafft. Die Neuregelung der §§ 20, 21 WEG setzt weiter gesamtgesellschaftliche Interessen um, indem das neue System der baulichen Veränderungen bestimmte bauliche Veränderungen privilegiert. Jeder Eigentümer hat – unabhängig vom Willen der Mehrheit – einen Individualanspruch auf Maß­nahmen der Barrierereduzierung, der Elektromobilität, des Einbruchsschutzes und des Glasfaserausbaus. Die Befugnis zur Nutzungsziehung läuft hierbei parallel zur Kostentragungspflicht: Die Nutzung des baulich veränderten gemeinschaftlichen Eigentums kommt nur denjenigen Wohnungseigentümern zugute, die auch die Kostenlast tragen.

Der Einbau des Plattformlifts ist eine privilegierte Maß­nahme nach § 20 Abs. 2 Nr. 1 WEG, da sie dem Gebrauch durch Menschen mit Behinderungen dient. Folglich besteht der Anspruch der Eigentümer auf die Genehmigung der baulichen Maßnahme, soweit sie angemessen ist, § 20 Abs. 1 Nr. 1 WEG. Sinn und Zweck der Angemessenheits-prüfung ist es, im Einzelfall unangemessene Forderungen zurückweisen zu können. Was unangemessen ist, ist nach der Gesetzesbegründung im Einzelfall unter Berücksichti­gung aller Umstände zu entscheiden. Es handelt sich um einen unbestimmten, aber voll justiziablen Rechtsbegriff, sodass den Wohnungseigentümern kein Entscheidungs­ermessen und kein Einschätzungsspielraum zukommt. Wichtig ist, streng zwischen der Angemessenheit und dem Durchführungsermessen zu unterscheiden. Zwar können beide Instrumente zur Beschränkung von Bauvorhaben führen, haben jedoch dogmatisch nichts gemein: Das Angemessenheitskriterium beschränkt den Anspruch auf die bauliche Veränderung, das Durchführungsermessen eröffnet einen Entscheidungsspielraum im Hinblick auf das „Wie“ der Durchführung. Stichhaltige Anhaltspunkte für eine Unangemessenheit wurden im konkreten Fall nicht vorgetragen.


VERWALTERSTRATEGIE

Eines der Hauptziele der Gesetzesreform und insbesondere der Neufassung der §§ 20, 21 WEG war es, bauliche Veränderungen nunmehr nur noch durch die Mehrheit der abgegebenen Stimmen beschließen zu können und den Wohnungseigentümern im Fall einer privilegierten Maßnahme die Möglichkeit zu eröffnen, diese sogar gegen den Willen der Mehrheit der Wohnungseigentümer durchzusetzen. Die zum früheren Recht ergangene Rechtsprechung ist mit der geltenden Gesetzeslage nicht vereinbar.

Soweit die Voraussetzungen des § 20 Abs. 2 S. 1 WEG erfüllt sind, hat ein einzelner Wohnungseigentümer – auch gegen den Willen der Mehrheit – einen Anspruch auf Fassung eines Vornahme- oder Gestattungs-beschlusses. Die Zurückweisung wegen Unangemessenheit ist nur im Einzelfall und unter Berücksichtigung aller konkreten Umstände möglich. Bejaht wurde die Unangemessenheit beispielsweise bei einer extensiven Erweiterung einer Terrasse, die in diesem Maße nicht zur Barrierereduzierung notwendig war.

Bordt, Franziska

Rechtsanwältin; Kanzlei Bub Memminger & Partner, München