12.04.2024 Ausgabe: vdivDIGITAL 2024/1

Dekarbonisierung des Gebäudebestands

Der neue europäische und nationale Regulierungsrahmen

Fit-for-55 ist nicht etwa eine neue Trendsportart im Bereich der Fitness, sondern bedeutet eine Kraftan­strengung ganz anderer Art. Europa hat sich vorge­nommen, bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent zu sein. Eine wichtige Zwischenetappe auf dem Weg dorthin markiert das EU-Klimagesetz 2030, welches eine CO2-Redu-zierung von 55 Prozent gegenüber 1990 vorsieht. Dafür will Europa fit werden: Fit-for-55. Das gleichnamige Paket enthält dazu einen Instrumenten- und Maßnahmenkasten bestehend aus nicht weniger als zwölf Richtlinien und Verordnungen.

Neue Art der Politikgestaltung

Die Immobilienwirtschaft tut sich bis heute sehr schwer mit diesem Paket. Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen ist die Immobilienbranche schon im nationalen Kontext schwer irritiert von der neuen Art der Politikgestaltung über das das Ordnungsrecht (Stichwort Gebäudeenergiegesetz) und die ohnehin zunehmenden Regulierungsdichte (in Häufigkeit und Umfang). Zum anderen ist es die Branche schlicht nicht gewöhnt, den Blick nach Brüssel zu richten.

Unvertraut: Die EU steuert mit

Das ist im Grundsatz auch nicht verwunderlich: Die EU hat keinerlei Gesetzgebungskompetenzen im Bereich der Baupolitik, des Mietrechts oder der Immobilienpolitik im Allgemeinen. Es gab nie wirklich eine Not­wendigkeit, sich pri­mär mit europäischen Vorschriften auseinan­dersetzen zu müssen. Doch über das Politik­feld des Energie- und Klimarechts, auf dem die EU sehr wohl weit­reichende Vorgaben machen darf, steuert das Fit-for-55-Paket in einem in der Geschichte der Europäischen Union unge-kannten Maße in die Immobilienwirtschaft hinein. Das ist nicht nur an sich neu, sondern auch im Inhalt. Umso wichtiger ist es, sich schnell und ernsthaft darüber klar zu werden, worauf es Brüssel ankommt.

Schritt eins: Der Emissionshandel wird reformiert

Zunächst reformiert Brüssel den Emissionshandel. Der ist immerhin kein Unbekannter. Im Emissionshandel sind seit 2005 die Sektoren Energie, Industrie und der innereuropäische Luftverkehr erfasst. Wer eine Tonne CO2 ausstoßen will, muss dafür ein Zertifikat erwerben. Der Preis bestimmt sich nach Angebot und Nachfrage. Wollen viele ein Zertifikat haben, steigt der Preis. Doch das Fit-for-55-Paket zäumt das Pferd von hinten auf und eliminiert über diverse kleine Stellschrauben jähr­lich eine hohe Zahl an Zertifikaten. Das ist eine klassi­sche, regulatorisch induzierte Angebotsverknappung und führt dazu, dass der CO2-Preis in diesen Sektoren sehr viel stärker steigen muss, als das in der Vergangenheit zu beobachten war.

Mit dem CO2-Preis steigen die Preise der Baustoffe

Für die Immobilienwirtschaft hat das zunächst nur einen scheinbar mittelbaren Effekt, wird sie selbst ja gar nicht direkt adressiert. Allerdings verteuern sich mit einem massiv steigenden CO2-Preis alle im Industriesektor her­gestellten Baustoffe, die noch immer unter hoher CO2-Intensität hergestellt werden, wie etwa Stahl, Beton und Zement. Ohne eine Dekarbonisierung der Industrie im ausreichenden Maße wird die Bauwirtschaft allein wegen des Emissionshandels weiter mit hohen Baukostensteige­rungen konfrontiert sein.

Schritt zwei: Ein zweites Handelssystem wird eingeführt

Doch auch der Gebäudesektor selbst bleibt nicht unbe­dacht. So wird dem etablierten Emissionshandel ein zwei­tes Handelssystem danebengestellt, das technisch zwar etwas anders funktioniert, am Ende aber genauso mittels zu erwerbender CO2-Zertifikate die Wärmeversorgung adressiert. Denn auch durch den Betrieb einer Immobilie soll möglichst wenig CO2 entstehen, weshalb der fossile Anteil in der Wärmeversorgung sinken soll.

Brennstoffemissionshandelsgesetz

In Deutschland gibt es diese Form eines nationalen Emis­sionshandels in Form des Brennstoffemissionshandels-gesetzes (BEHG) bereits seit wenigen Jahren. Ab 2027 wird das deutsche BEHG dann fast vollständig im euro­päischen Emissionshandel aufgehen. Und man ahnt es schon: Die Prämisse ist auch hier ein perspektivisch stei­gender CO2-Preis.

Weitere Richtlinien

Das Ganze wird flankiert durch eine Vielzahl weiterer Richtlinien, allen voran die EU-Gebäuderichtlinie. In den ursprünglichen Entwurfsfassungen schickte sich die Gebäuderichtlinie an, das schärfste ordnungsrechtliche Schwert zu werden mit einem gänzlich neu gefassten Neu­baustandard, der Einführung von europaweiten Gebäude­ausweisen (mit ganz anderer Tiefe als unsere deutschen Energieausweise) und harten Sanierungspflichten.

Im Fokus: Senkung des Primärenergieverbrauchs

Übrig geblieben ist am Ende in der Substanz nur eine recht vage Beschreibung zur Bestandsmodernisierung. Danach soll der durchschnittliche Primärenergieverbrauch des gesamten, jeweils national zu betrachtenden Woh­nungsbestandes bis 2030 um mindestens 16 Prozent und bis 2035 um mindestens 20 bis 22 Prozent gesenkt werden. Diese Vorgaben sollen vor allem über die Reno­vierung der sogenannten „worst performing buildings“ erzielt werden. Diese energetisch schlechtesten Gebäude eines jeweils nationalen Bestandes sind definiert als die 43 Prozent schlechtesten Gebäude. Von ihnen sollen 55 Prozent renoviert werden.

GEG hat EU-Vorgaben weitestgehend antizipiert

Am Ende dieser schier wirren Zahlenkette lässt sich schlicht die Erkenntnis ableiten, dass das deutsche GEG schon weitgehend die EU-Vorgaben antizipiert hat. Der Bun­desregierung muss es jetzt gelingen, die Wärmepumpe in die energetisch schlechtesten Gebäude zu bringen. Dann wäre der Richtlinie genüge getan. Erreichen könnte sie dies über eine Neuausrichtung der Förderpolitik nicht auf die soziale Situiertheit des Nutzers, sondern auf die energetische Qualität des Gebäudes.

Fit-for-XX-Paket 2.0

Zweifelsohne bedeutet das Fit-for-55-Paket eine Kraftan­strengung. Aber es geht weiter: Im Februar hat die EU-Kommission in einer Mitteilung erstmals die Grundzüge eines Klimagesetzes 2040 skizziert und eine CO2-Redu-zierung um 90 Prozent bis 2040 empfohlen. Wäre das Fit-for-55-Paket also eine neue Trendsportart im Fitness­bereich wird eines jetzt klar: Es handelt sich beileibe nicht um Intervalltraining, sondern um Hochpulstraining. Das Fit-for-XX-Paket 2.0 für die Immobilienwirtschaft steht schon in den Startlöchern

Kowitz, Dr. Paul

Geschäftsführer der KPC Berlin

Politikberatung für Immobilienunternehmen