08.12.2023 Ausgabe: vdivDIGITAL 2023/2

Der digitale Gebäudezwilling

Wie kann er zur energetischen Optimierung von Gebäuden beitragen?

Ursprünglich wurden Digitale Zwillinge (eng. Digital Twins) erst einmal in der industriellen Fertigung verwendet. ISO 23247-1 definiert sie als „digitale Darstellung eines beobachtbaren Fertigungsele­ments mit Synchronisation zwischen dem Element und seiner digitalen Darstellung“. Das Interesse an digitalen Gebäude­zwillingen wächst, weil sie über den gesamten Lebenszyklus eines Bauwerks allen Beteiligten in Planung, Bau und Betrieb erhebliche Vorteile bieten. Dennoch fehlt eine normative Defi­nition der digitalen Gebäudezwillinge, weshalb in der Literatur zahlreiche recht unterschiedliche zu finden sind. Ein digitaler Zwilling kann viele Elemente umfassen, etwa

  • eine dreidimensionale geometrische Darstellung der Gebäudestruktur sowie semantische Informationen über Baustoffe- und -komponenten. Beide Elemente - die 3D-Darstellung und die semantischen Attribute - bilden die Grundlage des Building Information Models (BIM) eines Gebäudes.
  • für den Betrieb relevante Informationenwie Inbetriebnahme- und Wartungsprotokolle, Gewährleistungsverträge, Zeitreihendaten aus Sensoren und Aktoren, die aus Gebäudeautomations-, IoT-Systemen und Online-Wetterdiensten erfasst, dem Gebäudezwilling übertragen und für Monitoring-, Überwachung- oder Opti­mierungszwecke verwendet werden.
  • verschiedene Modelltypen, z. B. physikalische für die dynamische Gebäudesimulation zur Beurteilung des Innenraumklimas und des Energieverbrauchs in der Planungsphase, aber auch datenbasierte Modelle Künstlicher Intel­ligenz (KI) aus dem Bereich des maschinellen Lernens, die beispielsweise für die Fehlerer­kennung und -diagnose oder die Regelung gebäudetechnischer Anlagen in der Betriebs­phase verwendet werden können. 

Der digitale Gebäudezwilling ist also die virtuelle Darstel­lung eines realen Gebäudes. Durch die Integration von Sensoren und Datenquellen werden kontinuierlich Infor­mationen relevanter Parameter gesammelt. Diese Daten werden in Echtzeit mit dem digitalen Gebäudezwilling abgeglichen, um den aktuellen Zustand des Gebäudes zu visualisieren und mögliche Optimierungspotenziale aufzu­zeigen. Je nach Anwendungsfall eines digitalen Zwillings ergeben sich dabei verschiedene Funktionsweisen, die wir beispielhaft an zwei Szenarien erläutern.

Fehlererkennung und Diagnose

Im Laufe des Lebenszyklus von Gebäuden entstehen Defizite wie Fouling am Wärmetauscher, Verschlechterung der Synchronisitation der Anlagen oder Defekte der Sensoren. Solche Defizite können mithilfe eines digitalen Zwillings erkannt, diagnostiziert und frühzeitig behoben werden. Dazu kön­nen Expertensysteme oder datenbasierte KI-Modelle ein­gesetzt werden. Bei Regelverletzungen oder Abweichungen von Modellvorhersagen generiert das System eine Meldung mit Informationen über den Fehler und übermittelt sie über eine geeignete Nutzerschnittstelle an den Gebäudebetreiber.

Intelligente Regelung und Energiemanagement

Durch die Analyse historischer und aktueller Daten kann der digitale Zwilling Vorhersagen zu Energieverbrauch und Gebäudeleistung erstellen. Dies ermöglicht die intel­ligente Optimierung von Heizung, Kühlung, Beleuchtung und anderen Systemen. Ein Beispiel für solche Anwen­dungen findet sich im Forschungsprojekt AI4HP1, bei dem die KI ein digitales Gebäudemodell aus Daten lernt, um die Wärmepumpe optimal zu regeln.

Wie lässt sich das umsetzen?

Voraussetzungen für die Umsetzung eines digitalen Zwillings sind die Verfügbarkeit digitaler Informationen, z. B. aus einem BIM-Modell, interoperable Schnittstellen, die es ermöglichen, Daten zwischen den verschiede­nen Domänen (BIM, Gebäudeautomation, FM-Prozesse etc.) auszutauschen, und natürlich Zeitreihendaten aus den gebäudetechnischen Anlagen in ausreichendem Umfang und hinreichender Qualität. Heute werden jedoch nur selten digitale Gebäudezwillinge verwendet, die alle erwähnten Elemente umfassen. Dies liegt einerseits am hohen Modellierungsaufwand und andererseits an der zeit- und Know-how-intensiven Sammlung und Ver­waltung der verschiedenen Datenquellen, an den vielen heterogenen Schnittstellen für die Datensammlung und am Mangel semantischer Interoperabilität zwischen den 

Domänen (Architektur, technische Gebäudeausstattung (TGA), Gebäudeautomation etc.). Es fehlen marktgängige Werkzeuge, die alle Elemente vollständig umfassen. In Forschungsprojekten wie EnergieDigital2, BUiLD.DIGITi-ZED3 und AI4HP1 hat das Fraunhofer ISE digitale Modelle prototypisch umgesetzt, die auf der automatisierten Erfas­sung von Gebäudedaten aus Anlagenschemata sowie Informationen aus dem Betrieb, der Inbetriebnahme und dem Monitoring basieren. Die Projekte ermöglichen die Überwachung und Optimierung des energetischen Betriebs von Anlagen und legen somit die Grundlage für die Ent­wicklung und Nutzung eines digitalen Gebäudezwillings.

Welche Vorteile und Effekte bietet das?

Die Vorteile eines digitalen Zwillings im Gebäudebereich sind vielfältig. Die Bereitstellung konsistenter und aktu­eller Informationen über das Gebäude für verschiedene Beteiligte kann Qualität und Effizienz der Prozesse in der Planungs-, Bau- und Betriebsphase steigern. Durch die Identifizierung von Optimierungspotenzialen können Ener­giekosten reduziert und die CO2-Bilanz eines Gebäudes verringert werden. Außerdem kann ein digitaler Gebäude­zwilling Entscheidungsprozesse im Facility Management oder bei Sanierungsbedarf unterstützen, da mögliche Aus­wirkungen im Voraus simuliert werden können. Durch die kontinuierliche Überwachung und Analyse von Messdaten aus gebäudetechnischen Systemen und Räumlichkeiten können Gebäudebetreiber Probleme frühzeitig erkennen und beheben, somit höhere Energieeffizienz, geringere Betriebskosten, besseren Komfort für die Nutzer und eine längere Lebensdauer der Anlagen und Komponenten erzielen.

 

Réhault, Nicolas

Gruppenleiter Building Performance Optimization, Abteilung Energy Efficient Buildings, Frauenhofer ISE

www.ise.fraunhofer.de

 

Frison, Dr. Lilli

Teamleiterin Kognitive Gebäude, Frauenhofer-Institut für Solare Energiesysteme 

Frauenhofer ISE